Widerstand in Rojhilat und im Iran – Wie ein Femizid zum Auslöser einer breiten Protestwelle wurde

Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Kurdin Jina Amini in der Hauptstadt Irans, in Teheran, von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht gemäß den islamischen Gesetzen trug. Drei Tage später verstarb sie. Ein Foto von ihr aus dem Krankenhaus ging innerhalb kürzester Zeit auf der ganzen Welt viral. Trotz der Bemühungen seitens der politisch islamischen Diktatur Irans, den Mord an Jina zu vertuschen, war allen klar: Die brutalen Schlägertrupps des Regimes haben eine junge Kurdin gefoltert und ermordet. Der 16. September 2022 zeichnet den Beginn einer anhaltenden Protestwelle, die das gesamte Land, von Jinas Heimatstadt Saqqez in Ostkurdistan, bis Teheran, bis hin zu den tiefsten Provinzen Irans, bis heute eingenommen hat. In den 44 Jahren des Bestehens der Islamischen Republik hat das Regime noch nie so sehr wie in den vergangenen fünf Monaten um seine Existenz bangen müssen, der Mord an Jina wurde zum Auslöser einer Frauenrevolution, vor der sich das zutiefst patriarchale, faschistische Regime enorm fürchtet.

Aber wie konnte sich dieser Aufstand so schnell verbreiten, was ist in den vergangenen Monaten passiert, sowohl im Land selbst als auch außerhalb, und was brauchen die Frauen und die gesamte Bewegung im Iran, um erfolgreich zu sein? Im Folgenden soll genauer auf diese und weitere Fragen eingegangen, die Situation im Iran analysiert und mögliche Perspektiven dargelegt werden.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Mord an Jina der Auslöser, der Tropfen war, welcher das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Ursachen und Gründe jedoch, weshalb in solch kurzer Zeit hunderttausende Menschen auf die Straßen gingen und unter Lebenseinsatz für ein würdiges Leben in Freiheit demonstrierten, liegen tiefer. Das Gesicht der politisch islamischen Oligarchie, welche seit 1979 im Iran an der Macht ist, und in der die politische und ökonomische Macht in der Hand einer kleinen korrupten Elite liegt, hat, wie jeder andere bürgerliche Staat auch, in Zeiten der Krise mehr denn je ihren wahren, neoliberalen Charakter ans Licht gebracht. Seit einigen Jahren befindet sich das Regime in der schwersten Krise seit seinem Bestehen: Erst die Corona Pandemie, bei welcher die Regierung ohne auszureichende Schutzmaßnahmen unzählige Tote mit auf dem Gewissen hat, das Fortbestehen der US-Sanktionen, die mitverantwortlich sind für die Misere der Ärmsten, und zusätzlich die Inflation, die bis heute bei über 40 Prozent liegt. Die sich immer verschärfende Armut hat breite Massenstreiks in den verschiedensten Sektoren, von Ölarbeiter:innen bis hin zu Lehrer:innen, ausgelöst. Auch ethnische Minderheiten haben in den Monaten und Jahren vor den Jina Amini Protesten immer wieder Aufstände entfacht, so, wie im Sommer 2021 insbesondere die arabische Minderheit in Khuzestan monatelang gegen Wasser- und Stromknappheit und generell der Unterversorgung auf die Straßen gegangen ist. Wir sehen also, dass sich im Land auch schon vor dem 16. September 2022 einiges getan und die Bevölkerung immer mehr das Vertrauen in die Regierung verloren hat. Und auch schon da wurde klar, dass das Regime nur eine einzige Antwort auf jeglichen Widerstand kennt: Rigoroses Durchgreifen und blutige Niederschlagung. So auch seit dem Beginn der Jina Amini Proteste.

Die Repression fing bereits bei der Beerdigung Jinas in Saqqez an, wo zahlreiche Frauen zum ersten Mal kollektiv ihre Kopftücher vom Kopf rissen und „Jin Jiyan Azadî“ riefen. Die Schlägertrupps des Regimes prügelten auf die trauernde Familie und Menge ein. Ergriffen von der Wut gingen die Proteste noch am selben Tag in Saqqez und Sanandaj weiter und wenig später riefen kurdische Oppositionsparteien zum Generalstreik auf: Am nächsten Tag streikte ganz Ostkurdistan. Frauen im restlichen Land griffen die Parole Frau, Leben, Freiheit auf und der Widerstand breitete sich schnell in den großen Städten Irans, wie in Teheran, aus – bis er auch in die tiefsten Provinzen des Landes drang. Anfänglich bestanden die Forderungen der Massen aus lückenloser Aufklärung des Mordes an Jina, doch die Frauen begnügten sich nicht damit und prangerten die gesamte patriarchale Gesetzesordnung des Regimes an. Der Ruf nach dem Sturz des Systems wurde schnell laut, und das überall im Land! Innerhalb weniger Tage wurden bereits dutzende ermordet und hunderte verhaftet. Besonders junge Frauen, die auf die Straßen gegangen sind, wurden mit sexualisierter Gewalt, Folter und Mord konfrontiert. Die Regierung versuchte in etlichen Fällen die Angehörigen hinterher zu zwingen, den Mord an ihren Liebsten als Selbstmord abzustempeln, so wie im Fall des Mordes an der 16-jährigen Nika Shakarami, die nach einer Demonstration verfolgt und ermordet wurde. Doch in den meisten Fällen ließen sich die Familien nicht von jeglicher Repression einschüchtern und wurden entgegen den Erwartungen des Regimes noch entschlossener im Kampf. Insgesamt wurden im Laufe der Monate etwa 20 Tausend Menschen inhaftiert, 500 ermordet, wobei die Dunkelziffer wahrscheinlich höher liegt. Mitte Dezember wurde der erste Demonstrant offiziell hingerichtet. Die Brutalität des Regimes zeigt, wie sehr es sich vor der kämpfenden Bevölkerung, insbesondere vor dem Widerstandswillen der Frauen und der Menschen in Ostkurdistan, fürchtet.

Dies zeigen auch die schweren Angriffe auf ganz Kurdistan Mitte November, bei welchen die beiden faschistischen Regime der Türkei und des Irans koordiniert die Autonomieregionen in Südkurdistan bombardierten, die Türkei Rojava angriff und das iranische Militär in Ostkurdistan einmarschierte. Tagelang wurde auf unbewaffnete Protestierende mit schwerer Kriegsausrüstung geschossen – innerhalb einer Woche wurden rund 80 Menschen ermordet. Außerdem hat eine Hackergruppe im Iran Ende November eine Audioaufnahme einer Sitzung von Mitgliedern der iranischen Führung veröffentlicht, wo sie sich darüber austauschen, dass die Protestbewegung von einem beachtlich großen Teil der Bevölkerung unterstützt, vor allem von Frauen angeführt und einen längerfristigen Widerstand zur Folge haben wird. Auch wenn die Islamische Republik noch nicht gestürzt wurde, hat und wird dieser Aufstand Folgen sowohl für das Land als auch für die gesamte Region nach sich ziehen. Denn noch nie in der Geschichte der Islamischen Republik war eine Protestwelle so breit geografisch verteilt, noch nie haben Proteste der brutalen Gewalt des Regimes so lange standgehalten und noch nie war die Rolle der Frauen so dominant! In den vergangenen Monaten waren es egal wohin man schaute junge Frauen, meist Schülerinnen und Studentinnen, welche die Proteste und die Massen an vorderster Front anführten! Auch die Männer der Bevölkerung haben sich das Motto Jin Jiyan Azadî auf die Fahnen geschrieben und lassen sich von ihren Schwestern, Müttern und Freundinnen in diesem Aufstand führen. Was angestoßen wurde, ist also ein breiter Frauenaufstand, welcher die fortschrittlichste Bewegung jemals im Land darstellt und mit einer verankerten Führung innerhalb der Massen das Potential hat, zu einer landesweiten Frauenrevolution zu werden. 

Was außerdem zu beobachten ist, ist die enorme Solidarität zwischen den unterdrückten Völkern: Die Bevölkerung steht Seite an Seite mit den unterdrückten Ethnien und Völkern und ruft nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Zwar hat sich die Dynamik geändert und Massenproteste wie in den ersten Wochen und Monaten sind zurückgegangen, doch die Islamische Republik fürchtet sich weiterhin vor der Bevölkerung, die sich ohne den Sturz des Regimes nicht zufriedengeben wird. Daher ist die Repressionsmaschinerie des Regimes auch noch immer in vollem Gange: Seit Monaten werden gezielt Schulen, wo junge Frauen und Mädchen hingehen, zur Angriffsfläche der Regierung. In mehreren Städten gibt es Berichte von Giftgasangriffen, die im Dezember angefangen haben und noch immer kein Ende finden. Wir sehen: Es sind Frauen und insbesondere junge Frauen, die, sei es durch sexualisierte Gewalt in den Gefängnissen, gezielte Entführung und Ermordung oder eben durch genau diese Giftangriffe, die Brutalität des politisch islamischen Staates am meisten zu spüren bekommen. Das Regime erkennt, dass es sich bei den Unruhen um einen Aufstand der Frauen handelt, der von Kurdistan ausging, das gesamte Land eingenommen und die Kämpfe der arbeitenden Klasse miteinander verbunden hat.

Es liegt auf der Hand, dass die Kämpfe des Proletariats im Iran und insbesondere der Frauen mehr als legitim sind und wir als Internationalist:innen stehen in der Pflicht, uns mit ihnen zu solidarisieren. Aber gleichzeitig müssen wir auch erkennen, dass die Bewegung von der ersten Sekunde an in großer Gefahr war und noch immer ist. Denn die ausländischen imperialistischen Mächte versuchen, den Aufstand für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wenn wir uns die Solidaritätsbekundungen im Ausland anschauen, besonders in den imperialistischen Kernzentren, so sind sie größtenteils von bürgerlichen Kräften vereinnahmt: Auf den Demonstrationen hier bekommen wir sehr oft die Fahne des iranischen Schah Regimes zu sehen. Wir sehen, wie sich unsere Außenministerin Baerbock mit einem Jin Jiyan Azadî Schild inszeniert und generell wie alle bürgerlichen Parteien sich scheinheilig mit der Bewegung im Iran solidarisieren. Doch was steckt eigentlich dahinter? Wie war das Schah Regime vor der Islamischen Republik und wieso trifft sich die EU jetzt mit dem Sohn des damaligen Schahs?

Die jetzige politisch islamische Regierung kam unter dem sogenannten Obersten Revolutionsführer Khomeini 1979 durch eine Revolution an die Macht. Davor herrschte eine von westlichen Imperialisten unterstützte Monarchie unter dem Alleinherrscher des Schahs Mohammad Reza Pahlavi. Entgegen der jetzt wieder laut gewordenen Stimmen, welche die Zeit unter dem Schah glorifizieren und vermeintliche Freiheiten damals gutheißen, muss klar aufgezeigt werden, dass das eine Regime nicht besser als das andere war. Ethnische Minderheiten, insbesondere Kurd:innen, wurden auch unter dem Schah brutal unterdrückt und jegliche politische Opposition, besonders die kommunistischen Kräfte, wurden verfolgt, verhaftet und ermordet. Die Revolution von 1979 wurde über Jahre hinweg vorbereitet und linke Kräfte spielten eine besonders große Rolle in der anfangs antiimperialistischen Revolution, die es geschafft hat, die Marionette der USA – den Schah, zu stürzen. Die Gefahr jedoch, die von den Mullahs ausging, wurde von vielen Kommunist:innen damals nicht gesehen und so konnte Khomeini die Massen für sich gewinnen. Das lag auch daran, dass die Mullahs Freiheiten unter dem Schah genossen, während progressive Organisationen und Parteien verboten und verfolgt wurden. Was ihnen außerhalb zum Sieg verhalf, war die Tatsache, dass Khomeini und die gesamte politische Agenda der Mullahs mit fortschrittlichem Gewand daherkamen. Sie gaben sich als Vertreter der Unterdrückten und Ärmsten aus. Doch mit der Zeit demaskierte die Islamische Republik ihr wahres Gesicht: Die Unterdrückung und Repression blieben auch nach dem Regierungswechsel nicht aus, die Herrschaft unter den Mullahs entpuppte sich letztlich als nichts anderes als ein weiterer kapitalistischer Staat, und so wurde jegliche Hoffnung auf einen sozialistischen Umsturz im Keim erstickt. Stattdessen wurde das Patriarchat zum geltenden Recht und durch die Zwangsverschleierung hat sich die misogyne Staatsideologie der politisch islamischen Kräfte manifestieren können. Für die arbeitende Bevölkerung ist es aber letztlich egal, ob der Schah oder die Mullahs sie ausbeutet und unterdrückt – Das Elend bleibt so oder so in diesem System für sie bestehen. Den NATO-Staaten hingegen ist es alles andere als egal, wer in dem Land an der Macht ist. Das jetzige Regime, als rivalisierende Macht, ist dem westlichen Imperialismus natürlich ein Dorn im Auge, und jegliche Protestbewegung, die das iranische Regime angreift, ist eine Chance für den Westen, seine geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen und seine Macht im Mittleren Osten weiter zu expandieren. Daher sind Staaten wie die USA sehr bemüht, die Bewegung der Exil-Iraner:innen in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken und darüber auch die Bewegung im Land selbst zu vereinnahmen, in der Hoffnung, das jetzige Regime zu stürzen und eine Marionettenregierung des Westens wieder einzusetzen. Dabei handelt es sich eben um den Sohn des Schahs, Reza Pahlavi, der neulich auch bei der Sicherheitskonferenz der NATO-Staaten teilgenommen hat und enge Verbindungen zu den westlichen Imperialisten pflegt. Den Staaten ist es gleichgültig, wie sie ihre Macht durchsetzen und setzen im Zweifel ihre Interessen auch durch eine blutige militärische Intervention durch, so, wie sie es schon etliche Male in der Geschichte gemacht haben: Irak und Afghanistan sind hier nur zwei Beispiele imperialistischer Militärinterventionen. Die angestrebten Sanktionen und die Forderung nach einer maximalen Isolation des iranischen Regimes soll genau diesem Ziel nützen. Das Motto der imperialistischen Propaganda lautet Freiheit und Menschenrechte, aber im Hinterhof geht ihre brutale imperialistische Politik weiter. Pro-kapitalistische Kräfte der Opposition werden nicht nur amerikanischen und kanadischen Regierungen, sondern auch von allen europäischen Regierungen hofiert und so verkaufen sie die Interessen des Imperialismus als Stimme der Jin-Jiyan-Azadî-Bewegung.

Wir sehen also eine besorgniserregende Entwicklung, gegen die alle progressiven Kräfte, allen voran antikapitalistische und internationalistische Frauen, entschieden vorgehen sollten. Wir müssen dafür sorgen, dass die vielen Menschen in Ostkurdistan und im Iran nicht umsonst ihr Leben im Kampf gelassen haben! Wir müssen uns immer und überall sowohl der Islamischen Republik als auch den NATO Staaten entgegenstellen – Genauso müssen es die Menschen im Land selbst tun, ganz nach dem Motto, welches die Menschen im Iran seit den Jina Amini Protesten skandieren:

Nieder mit dem Diktator, sei es der Schah oder die Mullahs!
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