Da das Interview mit einer anderen Organisation geführt wurde, ist es möglich das manche Inhalte von unserer Einordnung zur aktuellen Lage abweichen können. Gerade jetzt ist es wichtig sich mit verschiedenen Kräften zu vernetzten und die Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu verstärken. Eure Zora Redaktion.
1. In den letzten Wochen erhielten wir jeden Tag neue Nachrichten von Auseinandersetzungen und Kämpfen zwischen der palästinensischen Bevölkerung und dem israelischen Staat. Gleichzeitig sehen wir massenhafte Proteste in Israel gegen die geplante Verfassungsreform der rechten Regierung von Netanjahu. Was ist momentan in Palästina los und wie bewertet ihr die Entwicklungen? Wie beeinflussen sich die aktuellen Entwicklungen in Israel und Palästina gegenseitig?
Die Massenproteste, die in „Israel“ stattfinden, werden von Zionisten organisiert, die sich um ihre so genannte „Demokratie“ sorgen. Die zionistischen Anti-Netanjahu-Demonstranten fordern eine Demokratie in einem Ethnostaat, während die kolonialen Praktiken weitergehen. Die Art und Weise, wie die Palästinenser:innen von Netanjahu und allen früheren „israelischen“ Regierungen unterdrückt werden, interessiert sie nicht. Diese Proteste unterstützen das systematische Massaker an den Palästinenser:innen im Westjordanland, die Belagerung der Palästinenser im Gazastreifen, die Tatsache, dass die Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten Bürger dritter Klasse sind, und sie sind gegen die Rückkehr der Palästinenser:innen in der Diaspora in ihre Häuser und Dörfer.
Und wie wir gesehen haben, die Massenproteste in „Israel“ sind beendet, sobald die Netanjahu-Regierung das Gesetz über die Justizreform verschoben hat. In der Zwischenzeit baut sich der Widerstand im besetzten Palästina auf und wird immer fähiger, sich nicht nur gegen die Angriffe der zionistischen Armee und der Siedlerherden zu verteidigen, sondern auch in die Offensive zu gehen.
2. Während des Ramadan wird zu einem massenhaften Hungerstreik in den palästinensischen Gefängnissen aufgerufen. Was ist der Grund dafür, mit welchen Forderungen und Zielen wird dieser Hungerstreik durchgeführt?
Ben Gvir, der Minister für „innere Sicherheit“, erklärte in mehreren Medienauftritten, dass er die palästinensischen Gefangenen quälen werde und ihre internen Organisationsstrukturen innerhalb der Gefängnismauern zerstören wolle, die die Gefangenen in jahrzehntelangem Kampf aufgebaut haben. Damit werden die Rechte der palästinensischen Gefangenen, die durch Hungerstreiks, Zusammenstöße mit den Gefängnisbehörden und Märtyrertod errungen wurden, von der neuen Regierung systematisch beschlagnahmt. Es wurden Maßnahmen wie willkürliche Verlegungen und großflächige Einzelhaft angeordnet, verbunden mit Razzien und Übergriffen.
Angesichts dieses existenziellen Angriffs lösten die palästinensischen Gefangenen alle ihre Organisationen auf und wählten das „Oberste Notstandskomitee für die nationale Gefangenenbewegung“ zu ihrer einzigen Vertretung. Das Komitee rief eine Reihe von Eskalationsmaßnahmen gegen die Gefängnisbehörde aus, die Ende Januar begannen und am ersten Tag des Ramadan mit einem offenen Hungerstreik, an dem sich Tausende von palästinensischen Gefangenen beteiligen werden, ihren Höhepunkt erreichen sollten.
Dieser Widerstand war mit noch repressiveren Maßnahmen konfrontiert, wie der Verweigerung von Familien- oder Anwaltsbesuchen, der Verweigerung von Freigang im Gefängnishof, der Beschlagnahmung von Kochutensilien, der Abschaltung von Strom und Warmwasser und der Verhängung zahlreicher Einzelhaftanordnungen.
Die palästinensischen Gefangenen setzten jedoch ihren Widerstand fort, und am 22. März, einen Tag vor dem Ramadan, und nachdem mehrere palästinensische Führer im Gefängnis und mehr als 2000 palästinensische Gefangene ihre Teilnahme am Hungerstreik angekündigt hatten, erzwang das „Oberste Notkomitee für die nationale Gefangenenbewegung“ eine Vereinbarung mit der zionistischen Gefängnisbehörde, Nach dieser nahmen sie Abstand von den neu verhängten Sanktionen und kehrten zum Status quo zurück, um im Gegenzug nicht mit dem Massenhungerstreik zu beginnen.
3. Ihr habt nun schon viel über die Kämpfe für die Freiheit des palästinensischen Volkes innerhalb und außerhalb der Gefängnisse berichtet. Welche Rolle spielen Frauen in diesen Widerständen?
Frauen waren im Widerstand an allen Fronten aktiv, lange bevor die zionistische Einheit gegründet wurde. Der Westen unterteilt den Widerstand gerne in militanten und gewaltlosen Widerstand, um die Illusion von legitimem und illegitimem Widerstand zu erwecken, doch diese Unterscheidung hat es nie gegeben. Dies wird deutlich, wenn man die Rolle der Frauen betrachtet, die unter dem Banner bestehender Parteien in Brigaden, sowie in reinen Frauenorganisationen, wie der 1933 in Jaffa gegründeten Zahrat al-uqhuwan, militante Aktionen durchgeführt haben. Aber auch diejenigen, die nicht bewaffnet waren, spielten eine wichtige Rolle im Befreiungskampf – sei es bei der Propaganda, der Organisation und der Mobilisierung oder bei der Schaffung eines sozialen Bodens für die Gesellschaft, um standhaft zu bleiben. Ein Aspekt, der von liberalen Feministinnen oft übersehen wird, ist die Mutterschaft und die gegenseitige Hilfe in einem kollektiven, revolutionären Sinne. Die entscheidende Rolle von Müttern und anderen Frauen, die für die Gemeinschaft sorgen, wird in der Revolution nicht so anerkannt, wie es sein müsste. Dies kann die Erziehung der Kinder als Witwe nach dem Märtyrertod des Vaters oder als Ehefrau eines Gefangenen in den Gefängnissen der Besatzer sein, die Unterstützung anderer Mitglieder der Gemeinschaft, die ihre Familienmitglieder, ihr Zuhause oder ihren Lebensunterhalt verloren haben, oder einfach die Unterstützung eines Widerstandskämpfers in der Familie, wobei zu berücksichtigen ist, dass er möglicherweise nicht zurückkehren wird. Selbst eine Familie zu gründen und Kinder in diesem kolonialen Unterdrückungssystem aufzuziehen, ist an sich schon ein revolutionärer Akt, denn es bedeutet, eine Mutter zu sein, die ihr geliebtes Kind aufzieht, während sie gleichzeitig um dessen Zukunft und Leben in einem System grausamer politischer Unterdrückung fürchtet.
Die palästinensischen Frauen sind nicht nur standhaft und widersetzen sich dem anhaltenden Siedlerkolonialprojekt in ihrem Heimatland, sondern kämpfen auch gegen die orientalistische Diffamierung durch den Westen. Die Besatzung schürt die gesellschaftliche Instabilität und das Leben unter extremer Unterdrückung führt zwangsläufig zu einer nach innen gerichteten Unterdrückung, die sich in einer patriarchalischen Welt natürlich gegen Frauen richtet. Eine koloniale Analyse der Situation würde nicht die Besatzung, sondern die palästinensischen Männer dämonisieren und die orientalistische Sicht auf die gesamte palästinensische Gesellschaft und die palästinensische Frau als angeblich nicht selbstbestimmt befeuern.
Die Befreiung der palästinensischen Frauen wird weder durch westlich finanzierte NGO-Programme mit neokolonialer und neoliberaler Agenda, noch durch individualistische liberale Konzepte erreicht. Die wahre Befreiung der palästinensischen Frauen wird durch die Befreiung ganz Palästinas, vom Fluss bis zum Meer, erreicht, denn der Kampf für die Befreiung der Frauen ist ein kollektiver Kampf gegen Kolonialismus und Unterdrückung.
4. Der 18. März ist der internationale Tag für die Freiheit aller politischen Gefangenen. Mit welchen Forderungen ist Samidoun an diesem Tag auf die Straßen gegangen und wie würdet ihr den 18. März diesen Jahres auswerten?
Samidoun ist ein Netzwerk von Basisorganisationen, welches in mehreren Ländern vertreten ist und der palästinensischen Gefangenenbewegung außerhalb Palästinas eine Stimme geben will. Wir organisieren Demonstrationen, Kundgebungen, Seminare, veröffentlichen Materialien, entsenden Delegationen, übersetzen die Werke palästinensischer Gefangener und arbeiten daran, ihren Kampf und den Kampf für die Befreiung Palästinas mit anderen Befreiungskämpfen in der ganzen Welt zu verbinden.
Die palästinensischen Gefangenen sind Männer und Frauen, Kinder und ältere Menschen aus allen Teilen Palästinas und aus allen Familien. Sie stehen täglich an vorderster Front im palästinensischen Befreiungskampf. In den Gefängnissen der Besatzung stellen sich die palästinensischen Gefangenen dem Unterdrücker und dem Besatzer entgegen und setzen ihren Körper und ihr Leben aufs Spiel, um den Kampf ihres Volkes für Gerechtigkeit und Freiheit für das Land und das Volk von Palästina fortzusetzen.
Um über den anhaltenden Kampf der Gefangenen aufzuklären, hat Samidoun eine Bildungskampagne in fünf Sprachen gestartet, die die Geschichte der Gefangenen, die vor dem Osloer Abkommen von 1993 in zionistischen Gefängnissen inhaftiert waren, vorstellt. Der internationale Tag der politischen Gefangenen fiel auch mit dem Start einer internationalen Kampagne zusammen, die die Freigabe der sterblichen Überreste palästinensischer Märtyrer:innen in den Leichenhallen der Besatzer und den „Zahlenfriedhöfen“ fordert. Dies bezieht sich auf eine von der zionistischen Besatzung seit 1948 angewandte Praxis, bei der die Leichen von Märtyrer:innen, die im Kampf gefallen sind oder in Gefängnissen unter Folter oder durch medizinische Nachlässigkeit ermordet wurden, entführt und jahrelang in Leichenhallen aufbewahrt werden, um dann auf die „Nummernfriedhöfe“ überführt zu werden, wo die sterblichen Überreste der Märtyrer:in in einem Grab mit einem Grabstein bestattet werden, auf dem nur seine Aktennummer steht. Durch diese Praxis wird den Familien der Märtyrer:innen die Möglichkeit verwehrt, ihre Angehörigen zu bestatten, und den Märtyrer:innen wird ein Grab verwehrt, das ihre Familien besuchen können, da die Leichenhallen und die Friedhöfe der Nummern geschlossene „Militärzonen“ sind und den Familien, Reportern, Menschenrechtsvertretern und internationalen Vertretern der Zutritt verwehrt wird.
Es ist wichtig, auf die koloniale Praxis der “ administrativ Verhaftung“ hinzuweisen, die eine der faschistischsten Maßnahmen ist, die die Besatzung gegenüber dem palästinensischen Volk anwendet. Sie erlaubt es der Besatzung, jede:n Palästinenser:in ohne Anklage oder Gerichtsverfahren für 6 Monate zu inhaftieren und auf unbestimmte Zeit zu verlängern (einige Palästinenser:innen verbrachten Jahre im Gefängnis unter administrativ Verhaftung ohne Anklage oder Gerichtsverfahren).
Diese Methode wurde in Palästina erstmals von der britischen Kolonialmacht angewandt und dann vom zionistischen Regime übernommen. Heute wird sie routinemäßig eingesetzt, um Palästinenser:innen, insbesondere Gemeindeführer, Aktivisten und einflussreiche Personen in ihren Städten, Lagern und Dörfern, zu verfolgen.
Der Internationale Tag der politischen Gefangenen ist ein Tag, um all diese faschistischen Praktiken aufzudecken und ein Tag, um an der Seite unserer kurdischen, türkischen, philippinischen, schwarzen und indigenen Genoss:innen zu marschieren, deren politische Gefangene ebenfalls extremer kolonialer und reaktionärer Repression ausgesetzt sind und sich aktiv für ihre Befreiung und die ihres Volkes organisieren.
5. Der deutsche Imperialismus ist eine der wichtigsten Stützen Israels und seiner Unterdrückung Palästinas. Was kann von hier aus für die internationale Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf getan werden?
Deutschland spielt eine zentrale Rolle bei der diplomatischen und wirtschaftlichen Unterstützung der israelischen Besatzung. Es behauptet, dass es das Völkerrecht, die Menschenrechte und die UN-Resolutionen respektiert, aber wenn es um Palästina geht, wird all das über Bord geworfen und es steht fest auf der Seite des israelischen Faschismus. Sogar intern unternimmt sie alles, um jede Form der Palästina-Solidarität in Deutschland zu unterdrücken. In bestimmten Aspekten geht sie sogar noch repressiver vor als die Besatzung selbst. So wurden beispielsweise letztes Jahr am Nakba-Tag Demonstrationen in Tel Aviv abgehalten, die in Berlin verboten waren. Gleichzeitig sorgen die deutschen Medien dafür, dass diese repressiven Verbrechen gedeckt werden und die deutsche Öffentlichkeit im Dunkeln bleibt.
Ohne eine starke, prinzipientreue und einflussreiche Linke wird sich die Situation in Deutschland in Bezug auf Palästina nicht ändern, und die palästinensischen Flüchtlinge in Deutschland werden weiterhin die Leidtragenden der repressiven Maßnahmen des deutschen Staates sein. Die Menschen in Deutschland brauchen eine starke Linke, die sie vertritt. Eine, die für ihre Interessen kämpft, die ihre Hoffnungen und Träume trägt und die sie aus den Fängen der deutschen imperialistischen Interessen befreien kann. Die Frage der Palästina-Solidarität in Deutschland ist eng mit den imperialistischen Interessen des deutschen Staates selbst verbunden. Das eine ist, ohne das andere, nicht zu verstehen.
Kommentar verfassen