LGBTI+

Eine der ersten Fragen, die werdende Eltern gestellt bekommen, lautet: „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“ Nicht wenige Paare feiern diese „Offenbarung“ mit einer „Gender Reveal Party“. Warum hat das aber überhaupt so einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft, dass schon vor der Geburt das Körpergeschlecht eines werdenden Menschen auf dem Silbertablett präsentiert wird?

In diesem Text versuchen wir, eine kurze Antwort darauf und auf die Frage zu geben, was aus der Analyse für Konsequenzen für die politische Arbeit folgen könnten.

Geschlecht kann in zwei Bereiche unterteilt werden: das Körpergeschlecht (Englisch: sex) und das soziale/gesellschaftliche Geschlecht (Englisch: gender). Das Wissen darüber, welche Geschlechtsorgane ein Baby hat, beeinflusst die spätere Erziehung: Kleidungs- und Spielzeugauswahl, Wortwahl und Stimmlage oder Aufgaben und Erwartungen an bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften, die das Kind entwickeln soll oder nicht soll. Die damit verbundene Annahme ist, dass die „Biologie“ des Babys seine Persönlichkeit bestimme und dementsprechend behandelt werden müsse. Doch das stimmt nicht. Die persönliche Entwicklung hängt vor allem mit unserer Umwelt und den zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen. Es ist also etwas Gesellschaftliches und nichts, was bloß „von Hormonen gesteuert“ wird. Geschlechterrollen bestehen seit tausenden von Jahren und wurden weder von einer höheren Macht in Stein gemeißelt, noch sind sie durch Zufall entstanden. Sie hängen stark damit zusammen, dass die Menschheit vor langer Zeit begann, sich in soziale Klassen zu unterteilen, die ungleich viel Macht haben. Zu der Zeit veränderte sich die Lebensweise der Menschen und aus der Urgesellschaft entwickelte sich das Patriarchat und die Klassengesellschaft (siehe Text Patriarchat).

Entscheidend hierfür war das Erbe. Die Erbfolge konnte nur dadurch von der neuen herrschenden Männerklasse kontrolliert werden, dass die Körper und die Sexualität derjenigen Personen kontrolliert wurden, die die Kinder zur Welt brachten. Dadurch änderten sich die Familienstrukturen und zwei-geschlechtliche („binäre“) Geschlechterrollen verstärkten sich (also „Mann“ und „Frau“, „Vater“ und „Mutter“). Über die Jahrhunderte entwickelten sich die Klassengesellschaften und mit ihnen das Patriarchat. Stück für Stück blieb kein Platz für alles, was außerhalb dieser Binarität stattfindet. Wir sehen also, dass der Heterosexismus, also die Unterdrückung von LGBTI+, aus dem Patriarchat heraus entstand und in ihm notwendig ist.

Denn für uns ist klar: Lesben, Homo- und Bisexuelle, trans und inter Personen gab es schon immer. Gehen wir dafür nochmal einen Schritt zurück in Formen von Urgesellschaften: Es sind nämlich durchaus hier schon trans und nichtbinäre Identitäten und Völkern vorzufinden. Beispielsweise trans Schaman:innen bei nomadischen Clan-Gesellschaften in Afrika, Nord- und Südamerika und Asien etwa vor 10-50 Tausend Jahren, so genannte „Two-Spirit“ Personen in nordamerikanischen indigenen Stämmen oder den „Hijra“, transgeschlechtlichen Personen auf dem indischen Subkontinent. Auch homosexuelle Beziehungen sind nachweisbar: Das Wort „lesbisch“ zum Beispiel hat seinen Ursprung aus dem alten Griechenland von der Insel Lesbos. Forschungsbedarf hin oder her, Fakt ist: Die Lüge des bürgerlichen Heterosexismus „es gibt nur Mann und Frau!“ steht auf wackligen Beinen!

Durch die Geschichte hindurch finden wir etliche Beispiele der Existenz von LGBTI+, so sehr diese auch versucht wird zu leugnen und sie auszuradieren. In keinem Moment der Klassengesellschaften wurde die Existenz von LGBTI+ anerkannt, immer war sie Grund für Ausgrenzung, Spott und Diskriminierung bis hin zu schwerster Verfolgung. Interessant ist jedoch, dass gewisse Formen der Auslebung der Sexualität geduldet wurden, wenn sie sich in die Regeln des patriarchalen und Klassensystems einfügten: Durch die Geschichte hindurch gibt es verschiedenste Beispiele von homosexuellen Beziehungen von Männern der herrschenden Klasse, die ihre Sexualität teils offen ausleben konnten, solange sie auch Erben zeugten und eine männliche starke Rolle erfüllten (also mit jüngeren oder niedriger gestellten Männern zusammen waren). Homosexualität der unteren Klassen ist jedoch nie akzeptiert worden, auch bei Frauen in der Regel nicht. Das zeigt die Verbindungen des Heterosexismus mit Patriarchat und Klassengesellschaften, auf die wir später auch eingehen werden.

Heute leben wir im Kapitalismus. Das bedeutet nochmal ganz andere Verhältnisse, unter denen wir Güter herstellen und zusammenleben. Die Kleinfamilie spielt beim kapitalistischen Wirtschaftssystem eine entscheidende Rolle: Die ganze reproduktive Arbeit – also Haushalt, Verpflegung, Erziehung usw. – wird unbezahlt in einzelnen Haushalten, besser gesagt von Frauen, verrichtet, sodass Tag für Tag billig dafür gesorgt wird, dass Arbeiter:innen fit genug sind, um ihre Arbeitskraft auf dem Markt an Konzerne verkaufen zu können. Diese gesellschaftlichen Umstände haben den Heterosexismus verstärkt, denn die Kapitalisten wollen Familien aus Mann und Frau, die fleißig Nachwuchs, also kommende Arbeiter:innengenerationen, produzieren.

Das hatte im Prinzip weltweit zur Folge, dass einerseits Homosexualität generell unter Strafe gestellt wurde und dass andererseits erkämpfte Gesetzesreformen wie die „Ehe für Alle“ trotzdem in die Schranken des kapitalistischen Familienmodells passen müssen. Im Kapitalismus ist keine gesellschaftliche Rolle für inter, nichtbinäre und trans Personen vorgesehen. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass jahrzehntelang Ärzt:innen ungeschoren davon gekommen sind, wenn sie an inter Babys Genitalverstümmelungen vornahmen unter dem Vorwand, ihr Leben ja dadurch zu „erleichtern“, dass ihr Körper nach der OP in eine zweigeschlechtliche Norm passe.

Mit dem alljährlichen „Trans Day of Remembrance“ am 20. November wird weltweit für ein Ende transfeindlicher Morde gekämpft. Mühsam werden Jahr für Jahr die Daten über die brutalen Hassverbrechen von Aktivist:innen zusammengetragen. Denn trotz der dramatischen Zustände fallen die polizeilichen Erhebungen weltweit dünn aus. Überdurchschnittliche Betroffenheit von Obdachlosigkeit unter jungen LGBTI+ Personen, Hetzkampagnen durch Faschisten im Netz und auf der Straße (in Deutschland zum Beispiel durch die Rechte „Demo für Alle“) oder repressive Gesetze wie das „Transsexuellengesetz“ sind nur wenige weitere Beispiele für die Unterdrückung von LGBTI+ Personen.

Doch das wäre nur die halbe Geschichte, denn: Die Wahrheit ist auch, dass diese Zustände nicht widerstandslos bleiben. Mit dem Stonewall Aufstand in der Christopher Street in New York, der den Ursprung der nun weltweit jährlich stattfindenden und inzwischen leider stark kommerzialisierten CSD Pride Paraden darstellt, zeigt sich auch, dass Klassenkampf, Antirassismus und Selbstverteidigung gegen Polizeigewalt und LGBTI+-feindliche Gewalt zusammengehören. International gibt es für LGBTI+ kämpferische Vorbilder, die ihr Leben dem Kampf für eine solidarische Welt widmen: Die gefallene lesbische Guerilla Ivana Hoffmann, Sarah Hegazi – eine ägyptische revolutionäre LGBTI+ Aktivistin, die durch Folter im Gefängnis in den Suizid getrieben wurde – oder Leslie Feinberg, ein:e trans Sozialist:in und Autor:in aus den USA.

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter, nichtbinäre Personen und alle weiteren nicht-cis und nicht-hetero Identitäten haben mit ihrer Existenz und ihren Kämpfen eine Sprengkraft, was die kapitalistische Ordnung, Ehe und Kleinfamilie angehen. Das treibt den Kampf gegen das Patriarchat nach vorne! Viele Forderungen überschneiden sich mit denen von Frauenkämpfen – zum Beispiel, wenn es um körperliche und sexuelle Selbstbestimmung und Selbstverteidigung vor Hassverbrechen geht (Schwarze trans Frauen sind besonders häufig Opfer davon). Jedoch müssen wir auch die Unterschiede der Kämpfe gegen Patriarchat und Heterosexismus sehen.

Die patriarchale Ausbeutung der Reproduktionsarbeit von Frauen ist in der ökonomischen Basis der Gesellschaft verankert. Ohne Reproduktion kein Leben und auch keine Produktion, kein Gewinn. Heterosexismus bzw. die Unterdrückung von LGBTI+ sind hingegen im politisch-ideologischen Überbau der Gesellschaft verankert. Das heißt, diese Unterdrückung funktioniert INNERHALB von Klassengesellschaft und Patriarchat. Es gibt keine eigene ökonomische Ausbeutungsform von LGBTI+, sondern die Diskriminierung vertieft noch die Klassenunterdrückung und die patriarchale Unterdrückung.

Mehr unabhängige, antikapitalistische Organisierungsmöglichkeiten nur für LGBTI+ könnten die Kämpfe auf ein neues Niveau bringen. Das würde keine Abspaltung zur Frauenbewegung bedeuten – im Gegenteil, es würde auch ihr eine neue Qualität verleihen.

Denn: Unsere Befreiung gibt es nicht alleine, entweder zusammen oder keine!

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